von Moritz Roemer – Praktikant_in bei Amnesty International in Deutschland im Arbeitsbereich Asien und Amerikas und Frauen und LGBTI
"Gestern Abend war ich nach der Veranstaltung noch mit einem Freund unterwegs. Es war schon dunkel. Immer, wenn uns eine Gruppe von Personen entgegenkam, habe ich weggeschaut und die Straßenseite gewechselt", erzählt der schwule Menschenrechtsaktivist Iván Tagle. "Irgendwann hat der Freund mich gefragt, was ich da mache. Erst dann ist mir klar geworden, wie sehr ich mich an ein Leben in Angst gewöhnt habe."
Gefährliches Engagement
Diese Angst scheint leider berechtigt: Das Leben ist gefährlich in Mexiko – zumindest für alle jene, deren Rechte vom organisierten Verbrechen, dem Staat und der Gesellschaft nicht geachtet werden: Migrant_innen, Flüchtlinge, Frauen und Indigene sowie lesbische, schwule, bisexuelle sowie Trans- und Inter-Personen (LGBTI).
Und auch Medienschaffende und Menschenrechtsverteidiger_innen, die diese desolate Menschenrechtslage sichtbar machen und sich für die Rechte aller stark machen, begeben sich in Gefahr.
Auf einer Berliner Fachtagung zur Lage der Menschenrechte in Mexiko, die Amnesty mitorganisiert hat, kamen viele dieser Menschen zu Wort. Mexikanische Menschenrechtsverteidiger_innen trafen auf ein breites Publikum. Dazu gehörten Fachleute von NGOs, deutsche Medienschaffende, ehemalige Freiwillige und die mexikanische Diaspora.
Mehr Angriffe und Morde
Schon seit Jahren kommt Mexiko beim Thema Menschenrechte nicht aus den Negativ-Schlagzeilen. Seit Dezember 2018 ist Mexikos neuer Präsident Andrés Manuel López Obrador im Amt. Die anwesenden versuchten zu bilanzieren, wie sich die Menschenrechtslage in seinen ersten Regierungsmonaten verändert hat.
Was klar wird: trotz guter Vorsätze sind die Drohungen, Angriffe, Morde und das Verschwindenlassen seit seinem Amtsantritt nicht weniger, sondern eher mehr geworden.
In einer Arbeitsgruppe zu geschlechtsbasierter Gewalt spricht Iván Tagle über seine persönlichen Erfahrungen und es wird klar, woher jene Ängste kommen, die ihn im Alltag pausenlos begleiten.
"Konversions-Therapien" und "korrektive" Vergewaltigungen
Seine Eltern drängten ihn, den schwulen Sohn, eine "Konversions-Therapie" zu besuchen: Dabei verbrachte er mehrere Tage im Dunkeln, ohne Essen und Trinken. Andere wurden dabei Opfer von "korrektiven" Vergewaltigungen.
Daraufhin verließ er seine Familie. Für junge LGBTI-Personen ist das oft die einzige Chance. Tagle schlug sich allein als Straßenmusiker durch. Viele andere junge Menschen in seiner Situation können nur zwischen Sexarbeit oder Diebstahl wählen.
Kampf für LGBTI-Rechte
An dieser aussichtslosen und gefährlichen Situation wollte Iván Tagle etwas ändern: Er gründete mit anderen queeren Jugendlichen die Organisation YAAJ. Diese setzt sich für die Belange von LGBTI-Personen ein, will gegen Stigmatisierung kämpfen, "Konversions-Therapien" verbieten lassen und zugleich Medikamente zugänglicher machen, um HIV-positive und AIDS-kranke Menschen zu unterstützen.
In der Arbeitsgruppe diskutierten Tagle und verschiedene Anwesende, wie wir zu diesen Themen von Deutschland aus zusammenarbeiten könnten: Insbesondere bei dem Thema "Konversions-Therapie" liegen Mexiko und Deutschland gar nicht so weit auseinander, wie ich angenommen hätte.
Gespräche, Gebete, Exorzismen
Denn auch in Deutschland sind "Konversions-Therapien" legal: Hier werden sie von religiösen Gruppen angeboten in Form von Gesprächen und Gebeten bis zu Exorzismen. Oft werden queere Personen von Menschen, die ihnen nahestehen, zu so einer "Therapie" gedrängt. Die Folgen können katastrophal sein: Depression, Identitätsstörungen, erhöhte Selbstmordgefahr.
Der Aktivist Lucas Hawrylak machte durch eine Petition für ein Verbot der “Therapien“ darauf aufmerksam: Mehr als 80.000 Menschen haben schon unterzeichnet und Jens Spahn hat bereits gesetzliche Änderungen angekündigt. Wie genau diese aussehen sollen, ist aber noch unklar.
Die vielen persönlichen Berichte und der Austausch auf der Tagung machen unmissverständlich klar, dass die Menschenrechtssituation in Mexiko besorgniserregend bleibt. Aber zugleich gibt es mutige und engagierte Menschen wie Iván Tagle, die sich mit Mut für Menschenrechte einsetzen. Von ihren Erfahrungen und Strategien können wir viel lernen und uns gegenseitig unterstützen.