Sehr geehrter Herr Premierminister,
wir schreiben bezüglich der Ergebnisse der jüngsten Referenden in Taiwan, in denen die gleichgeschlechtliche Ehe und LGBT-inklusive Schulbildung am 24. November von den Wähler_innen abgelehnt wurden. Wir fordern die taiwanesischen Behörden auf, die Ergebnisse der Referenden nicht umzusetzen, da dies die Menschenrechte verletzen, die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Ausrichtung verstärken und eine umfassende und inklusive Bildung in Bezug auf Geschlecht und Sexualität unterminieren würde.
Wir möchten daran erinnern, dass die taiwanische Regierung trotz der Ergebnisse des Referendums immer noch von Gerichts wegen aufgefordert ist, Gesetze im Hinblick auf die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Verbindungen spätestens am 24. Mai 2019 umzusetzen. Dies ist die in der Auslegung des Verfassungsgerichts vom 24. Mai 2017 gesetzte Frist. Die verbleibende Frist für diese Gesetzgebung beträgt nun weniger als sechs Monate. Wir fordern Ihre Regierung dringend auf, den entsprechenden Gesetzesvorschlag so schnell wie möglich einzureichen.
Es ist enttäuschend, dass die Kampagne zur Bekämpfung gleicher Eherechte und der inklusiven Erziehung, die eine Plattform für Angstmacherei bot, in Taiwan ausreichend Unterstützung fand. Sie hat der Förderung des Schutzes der Grundrechte sowie der Bewegung für LGBTI-Rechte in Taiwan und derjenigen in anderen asiatischen Ländern, die Taiwan als Beispiel für den Schutz der Menschenrechte betrachten, einen herben Schlag versetzt. Die Ergebnisse des Referendums ändern nichts an der Verpflichtung Taiwans, gleichgeschlechtliche Verbindungen, wie vom Verfassungsgericht angeordnet, rechtlich anzuerkennen. Wenn die Umsetzung der Ergebnisse des Referendums Vorrang vor dem Urteil des Gerichts hat, wäre dies ein klarer Rückschritt für Taiwan und hätte gravierende Auswirkungen auf das Leben von Familien, die keinen Zugriff auf den Schutz der Ehe haben können. Und es wird die Rechte von LGBTI in Taiwan weiter untergraben. In der Kampagne, die zur Abstimmung führte, behaupteten sogar die Initiator_innen der Referenden gegen die Gleichheit der Ehe, dass sie nicht darauf abzielen, die Interpretation des Verfassungsgerichts aufzuheben. Die Politik Ihrer Regierung sollte sich jedoch in jedem Fall an dem orientieren, was nach innerstaatlichem Recht und internationalen Rechtsnormen zulässig ist.
Angesichts des Mandats des Verfassungsgerichts, den gleichberechtigten Schutz der Freiheit, eine Ehe einzugehen, für zwei Personen des gleichen Geschlechts zu erreichen, und der Ergebnisse der Referenden, sollte die taiwanische Regierung von ihrer primären Pflicht geleitet werden, die Menschenrechte aller zu schützen, zu erfüllen und zu respektieren, einschließlich der von Lesben, Schwulen und Bisexuellen. Die Menschenrechtsverpflichtungen der Staaten hängen nicht davon ab, ob diese Rechte von der Bevölkerung unterstützt werden, und Referenden sollten nicht dazu benutzt werden, die Rechte der Menschen zu unterdrücken. Die taiwanische Regierung sollte nicht zulassen, dass populäre und in diesem Fall homophobe Initiativen ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen zum Schutz der Grundrechte außer Kraft setzen.
Wir glauben, dass die Rechte auf Würde und Gleichheit in diesem Fall erfordern, dass Sie das Eherecht für gleichgeschlechtliche Paare auf derselben Grundlage und mit den gleichen Rechten wie die Ehe zwischen Paaren unterschiedlichen Geschlechts gewährleisten.
Wir vertrauen darauf, dass die taiwanische Regierung einen Vorschlag für eine Gesetzesänderung auf der Grundlage der oben genannten Prinzipien machen wird. Wir werden uns weiterhin mit Ihrer Regierung in dieser Angelegenheit austauschen und erwarten eine umfassende Gesetzgebung bezüglich der Anerkennung und zum Schutz gleichgeschlechtlicher Partnerschaften in Taiwan. Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freuen uns auf Ihre baldige Antwort.
Hochachtungsvoll
Graeme Reid
Direktor Programm für lesbische, schwule, bisexuelle und Transgender-Rechte
Human Rights Watch
Lisa Tassi
Stellvertretende Regionaldirektorin Amnesty International Ostasien Regionalbüro