Von Selmin Çalıskan
Paris, Flughafen Charles de Gaulles, im Flieger nach Douala, Kamerun. Wir wollen uns dort mit Alice Nkom treffen. Die kamerunische Rechtsanwältin hatte vor einem Jahr den siebten Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International in Berlin entgegen genommen - stellvertretend für die vielen mutigen Aktivistinnen und Aktivisten, die täglich ihr Leben im Kampf für die Rechte von LGBTI aufs Spiel setzen. Die Trophäe ließ sie in Deutschland und lud mich ein, sie ihr eines Tages eigenhändig abzuliefern. Irgendwie herrscht nervöse Stimmung an Bord. In Reihe 46 sitzen zwei Männer. Sie würden nicht weiter auffallen, wären da nicht all die Polizisten. Schnell wird klar: Die Männer sollen abgeschoben werden. Hier und jetzt, in diesem Flugzeug, gegen ihren Willen. Während der eine Gefangene nichts sagt und uns auch später seinen Namen nicht verrät, beginnt der andere zu schreien, schlägt wild um sich, spuckt und flucht. Immer wieder droht er, den Flieger in die Luft zu sprengen. Trotz Handschellen und Fußfesseln haben die Beamten alle Mühe, die Kontrolle zu wahren - zumal sich immer mehr Passagiere einmischen. Ein aufgebrachter Mitreisender vergleicht die Abschiebung mit einem Viehtransport. Unrecht hat er nicht.
Während ich mich noch dafür einsetze, dass dem Gefangenen wenigstens der Mundschutz abgenommen wird, rückt auf dem Rollfeld eine schwer bewaffnete Spezialeinheit an. Wie soll ich mich verhalten? Natürlich könnte ich mich weigern, an meinen Platz zurück zu kehren. Aber weder kenne ich die Vorgeschichte der Abschiebung, noch würde es dem Gefangenen nützen: Der Chef der Sondereinheit droht mir bereits mit Verhaftung; vermutlich würde ich bloß des Fliegers verwiesen, die Abschiebung fände ohne mich statt. Außerdem: In Kamerun zählen viele Aktivistinnen und Aktivisten auf meinen Besuch; sie möchte ich nicht im Stich lassen.
Ich entscheide mich also für Plan B und suche das Gespräch mit dem Kapitän. Wenn er ablehnt, die Abschiebung durchzuführen, kann sich auch die französische Polizei dem nicht widersetzen. Der Kapitän aber besteht darauf, den Flug mit allen Passagieren anzutreten - inklusive der Sitzreihe 46.
Dem jungen Mann sind in der Zwischenzeit die Kräfte ausgegangen, ebenso wie den meisten Protestierenden. Ich stehe aber noch und hake nach: Ein Polizist in Zivil versichert, der Abgeschobene werde in Kamerun auf freien Fuß gesetzt. Er sei nicht vorbestraft, hätte letztlich nur ohne Papiere in Frankreich gelebt und sich dabei erwischen lassen - nach 15 Jahren in Europa! Raffael schafft es noch, Kontakt zu einer Rechtsberatung in Douala herzustellen, gibt ihm die Telefonnummer vom Amnesty-Büro in Dakar und kehrt dann an seinen Platz zurück. Mit einer Stunde Verspätung rollt die Maschine auf die Startbahn. Per Lautsprecher wünscht der Pilot allen Mitreisenden einen entspannten Flug - und erntet Kopfschütteln auf vielen Sitzplätzen.
Wir haben die maximale Flughöhe längst erreicht, da wischt sich meine Nachbarin immer noch die Tränen aus den Augen. Schon häufig hat sie vom europäischen Asylsystem gelesen. Nun aber hat die Brutalität, die jeder einzelnen Abschiebung - sei sie juristisch auch noch so vertretbar - innewohnt, ein Gesicht: das eines jungen Kameruners, der sich nach anderthalb Jahrzehnten in Europa aufgrund einiger fehlender Dokumente in einem Land wird durchschlagen müssen, das er nicht sehr viel besser kennt als ich. Auf ihn - und auch auf seinen schweigenden Nachbarn - wartet eine ungewisse Zukunft.
Auf uns wartet nach diesem bitteren Erlebnis Alice Nkom. Eine Woche möchten wir uns Zeit nehmen, um uns ein genaueres Bild der Situation von LGBTI in Kamerun zu machen. Unterstützung erhalten wir dabei von Steve Cockburn und Balkissa Ide Siddo, die vom Senegal aus für Amnesty die Recherchen zu West- und Zentralafrika koordinieren. Aus Deutschland sind unsere Afrika-Referentin Anika Becher und Wiltraud von der Ruhr, die seit Jahren die Kamerun-Arbeit auf Mitgliederebene leitet, mit dabei.
Bereits unser erstes Gespräch zeigt, wie schlecht es um die Rechte der LGBTI in Kamerun bestellt ist. Ein junger Mann, Mitte zwanzig, berichtet, dass eines Nachmittags plötzlich wildfremde Männer vor seiner Tür standen. Sie zerrten ihn auf die Straße, zogen ihn aus, schlugen vier Stunden lang auf ihn ein, klemmten ihn in einen Autoreifen und überschütteten ihn mit Benzin - weil seine sexuelle Orientierung nicht ihren Vorstellungen entsprach. In letzter Sekunde ging ein Schaulustiger dazwischen; der junge Mann aber blieb traumatisiert zurück, die Täter blieben straflos. Selbst die eigene Familie will mit dem Opfer nichts mehr zu tun haben, hat den jungen Mann verstoßen: "Meine Eltern sind offensichtlich der Meinung, dass für ihren eigenen Sohn kein Platz auf dieser Erde ist." Ich habe den Eindruck: Er zweifelt selbst daran.
In solchen Situationen kommen Menschen wie Alice Nkom ins Spiel. Sie bieten medizinische Behandlung, psychologische Beratung, sexuelle Aufklärung, Sicherheitstraining und Rechtsberatung. Vor allem aber machen sie Mut und schaffen ein neues Zuhause. Immer wieder wird in Kamerun klar, wie entscheidend es ist, dass gerade traumatisierte Menschen einen Ort haben, an dem sie frei reden und für einen kurzen Moment - hinter verschlossenen Türen in einer kleinen, staubigen Nebenstraße von Douala oder Yaoundé - sie selbst sein können. Wir sollten alles unternehmen, diese wenigen Rückzugsorte zu erhalten.
Wer sich in Kamerun für die Rechte von LGBTI einsetzt, lebt in Gefahr. Kaum mietet eine Vereinigung einen Raum an, wird eingebrochen und geplündert. Oder es fliegt ein Molotow-Cocktail durch die Fensterscheibe. Systematisch bedient sich die Regierung der Strafjustiz, um kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen. Willkürliche Verhaftungen, unfaire Gerichtsverfahren und die Misshandlung von Gefangenen sind an der Tagesordnung. Selbst offensichtliche Folter und außergerichtliche Tötungen bleiben unbestraft. Umso demütiger blicke ich auf den unerschrockenen Enthusiasmus, mit dem viele Menschen in Kamerun tagtäglich für die Rechte der LGBTI eintreten.
Auch Eric Lembembe war einer von ihnen. Im Sommer 2013 wurde der bekannte LGBTI-Aktivist und Leiter der "Cameroonian Foundation for AIDS" tot in seiner Wohnung aufgefunden. Seine Mörder hatten ihn mit einem Bügeleisen gefoltert und ihm anschließend das Genick gebrochen. Beweisstücke wurden keine gesichert, nach Zeugen nicht einmal gefahndet. Bis heute.
Auch deshalb war es uns so wichtig, sein Grab in Yaoundé zu besuchen. Seine Schwester, sein Bruder und einige seiner Freunde begleiteten uns zum Friedhof, wo wir gemeinsam eine Kerze von Amnesty International anzündeten. Ein Moment, der keiner Worte bedarf. Der Journalist, der uns begleitete, wollte unbedingt ein Interview am Grab. Ich verneinte. Er insistierte. Ich verneinte. Später bestätigten die Mitstreiter von Lembembe, die Ermordung habe durchaus die intendierte Wirkung gezeigt. "Jeder hat hier Angst um sein Leben", erklärt uns ein enger Freund von Lembembe. "Doch wir haben nicht das Recht, Eric und seine Familie zu enttäuschen. Er hat uns seinen Kampf hinterlassen. Den führen wir weiter. Wir müssen nur geduldig sein."
Geduld - eine wichtige Tugend in einem Land wie Kamerun: Mehrfach müssen wir beim Justizministerium vorstellig werden, bevor wir endlich unsere 54.812 Petitionen für die Rechte von LGBTI überreichen können. Auf dem Schreibtisch des Menschenrechtsbeauftragten lugt da bereits ein Brief von Amnesty International aus einem hohen Papierstapel hervor. Eine schwarze Kerze auf gelbem Grund in einem kleinen Büro in Yaoundé - genau darin liegt die Hoffnung der vielen Aktivistinnen und Aktivisten in diesem Land: Dass Organisationen wie Amnesty im Hintergrund agieren und gleichzeitig dort Unterstützung leisten, wo internationaler Druck gebraucht wird.
Ohne das große ehrenamtliche Engagement auch in Deutschland wäre das nicht denkbar. Ich möchte mich deshalb erneut für all den Einsatz bedanken - und bin damit nicht allein: An unserem letzten Abend in der Hafenstadt Douala hatten wir Gerard Kuissu und drei weitere Journalisten vom "Tribunal Article 53" getroffen, um über ihren Einsatz gegen Straflosigkeit in Kamerun zu sprechen. Unweit unseres Hotels waren sie daraufhin festgenommen worden. Während die anderen schnell wieder frei kamen, blieb Gerard in Gewahrsam. Der Vorwurf: Gemeinsam mit ausländischen Kräften - gemeint waren auch wir - plane er die Destabilisierung des Landes. Wir lancierten eine "Urgent Action", schalteten die deutsche Botschaft ein und machten uns persönlich im Verteidigungsministerium für seine Freilassung stark. Gerade berieten wir uns noch mit seinem Anwalt, als dieser einen Anruf erhielt: Die Anklage werde fallen gelassen. Nach mehr als 72 Stunden kam Gerard frei.
Unsere Delegation hat sichtbare Abdrücke in Kamerun hinterlassen. Die Regierung weiß jetzt, dass Menschenrechtsverteidiger auf Amnesty zählen können. So wie Gerard. "Ich möchte Amnesty International von tiefstem Herzen danken", gab er uns mit auf den Weg. "Der Einsatz für die Menschenrechte geht weiter." Dem ist nichts hinzuzufügen.