In diesem Jahr stellt der Deutsche Bundestag das Gedenken an die Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und/oder ihrer Geschlechtsidentität und -ausdruck im Nationalsozialismus verfolgt wurden, in den Mittelpunkt. Auch wir als Menschenrechtsorganisation möchten an all jene erinnern, die aufgrund von sozialer Ächtung und strafrechtlicher Verfolgung nicht ohne Angst sein und lieben konnten. Bereits ab 1933 wurden Lokale geschlossen, Vereine und Verlage aufgelöst sowie Zeitschriften verboten, die sich für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt einsetzten.
Der aus der Kaiserzeit stammende und durch die Nationalsozialist*innen verschärfte §175 bzw. §175a des Reichsstrafgesetzbuches stellte darüber hinaus sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Es wird mit Bezug auf diesen Straftatbestand von 50.000 Verurteilungen bis 1945 ausgegangen. In den Konzentrationslagern wurden die Betroffenen mit dem sogenannten Rosa Winkel kenntlich gemacht. Lesbische, bisexuelle, trans und intergeschlechtliche Menschen wurden darüber hinaus unter unterschiedlichen Vorwänden stigmatisiert und kriminalisiert.
Das Unrecht endete nicht mit dem Ende des "Dritten Reiches". §175 bestand, wenn auch in veränderter Form, sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR fort. Erst 1994 wurde der Paragraph endgültig aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Erst 2002 wurden die nationalsozialistischen Unrechtsurteile aufgehoben. Die nach dem 5. Mai 1945 wegen einvernehmlicher homosexueller Handlungen verurteilten Personen in beiden deutschen Staaten mussten bis 2017 auf strafrechtliche Rehabilitierung warten. Die daraus resultierende Möglichkeit einer verspäteten Entschädigungszahlung stand Menschen, die nicht verurteilt wurden, aber beispielsweise in Untersuchungshaft waren, nicht offen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte eine Kriminalisierung homosexueller Handlungen bereits vor Inkrafttreten des Gesetzes zur strafrechtlichen Rehabilitierung am 22. Juli 2017 als einen Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention eingestuft.
Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von Geschlechtsmerkmalen, sexueller Orientierung sowie geschlechtlicher Identität gehören leider immer noch nicht der Vergangenheit an. Feindliche Einstellungen gegenüber lesbischen, schwulen, bisexuellen, trans und intergeschlechtlichen Menschen manifestieren sich nach wie vor in Hassreden und Gewalttaten. Allein im Jahr 2021 – die offiziellen Zahlen für 2022 liegen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Textes noch nicht vor – verzeichnete das Bundeskriminalamt in Deutschland einen Anstieg von Straftaten von Hasskriminalität in Bezug auf sexuelle Orientierung um mehr als 50 Prozent und in Hinblick auf Geschlecht bzw. sexuelle Identität sogar um mehr als 66 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Nicht heterosexuell oder cis geschlechtlich zu sein, setzt auch in anderen Ländern Menschen verschiedenen Gefahren aus: Sie müssen mit Anklagen und Inhaftierungen rechnen, sind in ihrer Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt, auch andere Rechte werden ihnen vorenthalten oder sie müssen sogar aus ihrer Heimat fliehen. Dabei gelten die Menschenrechte für alle Menschen, unabhängig davon, wer sie sind und wen sie lieben. Das sichert uns die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte zu, die vor 75 Jahren angesichts der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen verabschiedet wurde.
An die Opfer dieser menschenverachtenden Gräueltaten zu erinnern, mahnt uns, die Worte dieser wegweisenden Vereinbarung als Lehre aus der Geschichte ernst zu nehmen: "Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Der erste Artikel wird ergänzt durch den zweiten: "Jeder Mensch hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied." Damit diese Worte tatsächlich Realität werden, müssen wir uns täglich gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit wehren und für die Verwirklichung der Menschenrechte aller einsetzen.