Sexuelle Identität aber auch Menschenrechtsverletzungen an Frauen in der Türkei waren die beherrschenden Themen der im Oktober durchgeführten Informations- und Aktionswoche in Berlin. Gemeinsam mit den beiden Filmemacherinnen Verena Franke und Maria Binder, mit gladt e.V. (Gays and Lesbians aus der Türkei) und dem Frauenrechtsbüro luden zwei ai-Gruppen ein, diese Themen mit fünf türkisch-kurdischen Gästen zu diskutieren. Vier von ihnen kamen direkt aus der Türkei, eine der Transsexuellen aus der Schweiz.
Je mehr die Debatte über den Beitritt der Türkei in die EU ins Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt war, desto mehr gerieten die weiterhin andauernden Menschenrechtsverletzungen vor allem an Frauen und sexuellen Minderheiten in Vergessenheit. Auch die Novellierung des türkischen Strafgesetzbuches im letzten Sommer kann als Konsequenz die Grundrechte unnötigerweise noch weiter einschränken. "Sexuelle Orientierung" als zu verbietenden Diskriminierungsgrund wurde dort nämlich gestrichen. Amnesty international forderte daraufhin umgehend mittels weltweit durchgeführter Schnellappelle die sofortige Wiederaufnahme dieses Diskriminierungsschutzes.
Auslöser für die Initiierung der Informationswoche waren Berichte zu den Übergriffen auf Hülya Dasdemir in Istanbul im Frühjahr letzten Jahres, welche für große Aufregung gesorgt hatten. Hülya, eine Transsexuelle, wurde wiederholt von Polizisten in Istanbul angegriffen und schwer misshandelt. Sie berichtet in einem Interview für diese Ausgabe des MERSI-Rundbriefes darüber. Hülyas Anwältin Eren Keskin sowie der schwullesbische Verein Lambda Istanbul unterstützen Hülya in ihrem Kampf für Gerechtigkeit. Amnesty international griff diesen Fall auf und half Hülya finanziell, da sie aufgrund der Misshandlungen nicht in der Lage war, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Mittlerweile hat sie politisches Asyl in der Schweiz erhalten.
Die Informationswoche begann am Sonntag mit einem Pressegespräch der beteiligten Referentinnen sowie der Veranstalter und wurde am Montag mit einer Podiumsdiskussion im Grünen Salon zum Thema "Transidentitäten in der Türkei" fortgesetzt. Hülya und drei weitere transsexuelle Frauen sowie die Menschenrechtsanwältin Eren Keskin zogen eine Bilanz der Intoleranz und offenen Aggression, die sie in ihrem Alltag erfahren. Transsexuelle werden regelmäßig von staatlichen Sicherheitskräften aufgegriffen und unter dem Vorwand exhibitionistischen Verhaltens und des Verstoßes gegen sittliches Benehmen zu hohen Geldstrafen verurteilt.
Oft kommt es dabei auch zu gewalttätigen Übergriffen seitens der Polizei, wobei die Täter in der Regel straffrei ausgehen. Die Besucher der Veranstaltung zeigten sich sichtlich erschrocken über die offene Gewalt gegenüber sexuellen Minderheiten in der Türkei, stellten viele Fragen und kamen anschließend mit den Referentinnen persönlich ins Gespräch.
Am Mittwoch wurde der Dokumentarfilm „Halbes Leben - Yarim Hayatlar“ der Filmemacher Claudia Laschak und Kay Wishöth im Kino Babylon (Berlin-Mitte) gezeigt, der die Situation Homo- und Transsexueller in Istanbul porträtiert. Anschließend erfolgte eine Diskussion unter Beteiligung der beiden Filmemacher und Demet Demir (eine der Protagonistinnen des Films) vor ausverkauftem Haus. Am nächsten Abend folgte eine Diskussionsrunde zum Thema "sexualisierte Folter an Frauen". Die Rechtsanwältin Eren Keskin, selbst immer wieder ai-Fall, berichtete anschaulich über die Situation der Frauen in der Türkei, vor allem über die sexuellen Übergriffe und die Straflosigkeit der Täter.
Ende Februar dieses Jahres ist eine Studie, die amnesty international, die Stiftung PRO ASYL und die Holfort-Stiftung vorgelegt haben, zu dem Ergebnis gekommen, Angeklagte in der Türkei, die eines politischen Delikts beschuldigt werden, hätten weiterhin keinen fairen Prozess zu erwarten. Für die Studie wurden Gerichtsakten ausgewertet, Gespräche mit Rechtsanwälten Betroffener geführt sowie einige Prozesse vor Ort beobachtet.
Der Gutachter Helmut Overdiek, der konkret 18 Fälle untersuchte und bei zwölfen auf ernsthafte Folterhinweise stieß, sagte zur Rechtsstaatlichkeit politischer Prozesse: "Ich musste feststellen, dass sich so gut wie nichts verändert hat." (taz vom 24.2.06).
Amnesty international wird die Situation der sexuellen Minderheiten in der Türkei weiter beobachten und ihren Schutz vor Übergriffen einfordern.
Der Autor Stephan Cooper engagiert sich sowohl bei MERSI als auch in der Berliner Türkeigruppe von amnesty international.
Copyright für die Fotos: Pea Lehmann
erstellt am: 13.03.2006