Von Irene Eidinger und Thorsten Mense, Tiflis
Laute House-Musik wummert aus den Boxen, im Nebel der Tanzfläche knutschen zwei Männer lasziv unter einem riesigen Holzkreuz, ein paar Meter weiter tanzen drei Drag-Queens leicht bekleidet auf einem Podest. Es ist vier Uhr morgens im Tifliser Club Bassiani, dem »Berghain des Ostens«. Die Szenerie unterscheidet sich kaum von der in anderen großen Techno-Clubs europäischer Metropolen.
Doch um Einlass auf die »Horoom-Night« zu bekommen, muss man sich vorab mit Namen, Ausweisnummer und Facebook-Profil anmelden. Ein Mitarbeiter sichtet die Profile, bevor Einladungen verschickt werden, und Dutzende Türsteher, die mit ihren Quarzhandschuhen nicht sonderlich queer wirken, passen in der Nacht auf, dass nur die Eingeladenen den Club betreten. Warum, weiß ein Gast Anfang 20 zu berichten: »Da draußen ist Feindesland.«
Lange Zeit galt Georgien als eines der homophobsten Länder des Ostens. Noch immer hält die große Mehrheit der Bevölkerung Homosexualität für inakzeptabel. Dass sich das Ressentiment nicht nur in Umfragen äußert, zeigte sich vor fünf Jahren:
Am 17.Mai 2013, dem »Internationalen Tag gegen Homophobie und Transphobie« (IDAHOT), kam es in der Innenstadt von Tiflis zu einer von orthodoxen Klerikern angeführten Hetzjagd Tausender Menschen gegen eine kleine Demonstration für die Rechte von Schwulen und Lesben. Die Aktivisten und Aktivistinnen wurden angeschrien, bespuckt und verprügelt. Nur mit Mühe konnte sie die Angegriffenen in Sicherheit bringen.
Levan Berianidze, Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation Equality Now, die sich für die Rechte von LGBT einsetzt, sieht die orthodoxe Kirche als das größte Hindernis im schwierigen Kampf für mehr Toleranz gegenüber sexuellen Minderheiten. In der Bildung gebe sie den Ton an, Sexualkunde werde in den Schulen nicht gelehrt. »Die Kirche füllt seit Anfang der 1990er Jahre ein Vakuum, das mit dem Ende des Kommunismus entstanden war. Die georgische Gesellschaft versank in Chaos, Menschen hungerten, es gab keinerlei Autoritäten mehr. Die Kirche bot plötzlich Halt und Orientierung«, sagt Berianidze.
Die Kirche prägt auch den Blick auf Homosexuelle, denen unterstellt wird, die traditionelle Familie zu zerstören und die christlich-nationalen Werte des »georgischen Volkes« zu zersetzen. Viele Lesben und Schwule berichten, dass sie angefeindet und angegriffen werden, wenn sie ihre sexuelle Orientierung in
der Öffentlichkeit zeigen.
Das Bassiani steht symbolisch für einen gesellschaftlichen Gegenentwurf und hat sich seit seiner Eröffnung 2014 zu einem wichtigen Treffpunkt nicht nur der queeren Szene, sondern einer jungen Generation entwickelt, die sich von den traditionellen und christlich-orthodoxen Werten abwendet. Die Bedeutung des Clubs und sein gesellschaftliches Konfliktpotenzial wurden im Mai dieses Jahres deutlich, als Hunderte Polizisten das Bassiani sowie einen weiteren queer freundlichen Club, das Café Gallery, stürmten. Als Begründung gaben die Behörden an, die Clubs stünden mit Todesfällen in der Drogenszene in Verbindung.
Doch am nächsten Tag versammelten sich spontan Tausende vor dem Parlamentsgebäude, um gegen den brutalen Einsatz und für eine liberalere Drogenpolitik zu demonstrieren. Im Verlauf des Tages wandelte sich die Kundgebung in einen ausgelassenen Rave, dem nur ein kleiner Block faschistischer Gruppen gegenüberstand. Der Protest zeigte Wirkung: Innenminister Giorgi Gakharia entschuldigte sich öffentlich für die Razzia, versprach Aufklärung und eine Reform der Drogenpolitik.
Der Protest erregte großes internationales Aufsehen, kam aber für junge Georgierinnen und Georgier aus der Szene nicht überraschend. Denn für viele ging es bei dem Protest-Rave um mehr, als nur gegen einen rabiaten Polizeieinsatz zu demonstrieren – und bei der Razzia in den beiden Clubs ging es um mehr als die Suche nach Drogen. Die Protestierenden sehen sich als Teil einer sozialen Bewegung, die auf drei Pfeilern aufbaut: LGBT-Rechte, Feminismus und die Liberalisierung der repressiven Drogenpolitik, die noch immer dazu führt, dass Menschen wegen geringer Mengen Drogen für mehr als zehn Jahre ins Gefängnis müssen. Ihre Basis sind die progressiven Clubs, Initiativen wie das White Noise Movement und verschiedene NGOs, zumeist finanziert von internationalen Geldgebern.
Giorgi Kikonischwili, schwuler Aktivist und Organisator der queeren Party-Reihe »Horoom Nights«, glaubt, dass der Polizeiüberfall auf das Bassiani und auch die Vorkommnisse im Mai 2013 für die Bewegung von Vorteil waren: »Damit sind wir sichtbar geworden, die Bilder gingen um die ganze Welt. Es wurde eine Debatte über die Rechte von LGBT und eine progressivere Drogenpolitik in Gang gesetzt. Es klingt verrückt, aber im Grunde konnte uns nichts Besseres passieren.«
Tatsächlich hat sich seit dem Angriff 2013 auf die LGBT-Demonstration etwas getan in der georgischen Gesellschaft. 2014 wurden, nicht zuletzt auf internationalen Druck, Antidiskriminierungsgesetze erlassen, und auch in Umfragen zeigt sich eine Verbesserung. Die offen bekundete Ablehnung von sexuellen Minderheiten nimmt ab. Ein Grund dafür könnte allerdings sein, dass es vielen als staatsbürgerliche Pflicht gilt, sich gemäßigt zu äußern. »Es verlassen immer noch jede Woche ein bis zwei queere Personen das Land, weil sie mit ihrer sexuellen Orientierung hier nicht leben können«, berichtet Berianidze. Die diesjährige IDAHOT-Demonstration wurde wegen Drohungen rechter Gruppen abgesagt.
Für Kikonischwili sind die »Horoom Nights« daher auch ein politisches Projekt, das der Vernetzung und dem Aufbau einer Gemeinschaft dienen soll. Der Eintritt ist frei, und bisweilen wird gar der Darkroom zweckentfremdet, um über Politik zu diskutieren. Als safe space im Kaukasus ziehen die »Horoom Nights« schwule Gäste aus Aserbaidschan, Iran und Russland an. Es gibt aber auch Kritik, unter anderem an der restriktiven Einlasspolitik der »Horoom Nights«, die nur offensichtlich queeren Personen Zutritt gewährt: »So kommen wir aus unserer Blase nicht heraus«, kritisiert der Queeraktivist und Fotograf Lasha Tsertsvadze.
Lika Jalagania, Anwältin der linken NGO Human Rights Education and Monitoring Center, hat darüber hinaus große Zweifel bezüglich der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung: »Das Bassiani gaukelt der LGBT-Community ein Stück weit eine heile Welt vor. Gesellschaftspolitisch hat der Club weniger Einfluss als westliche Medien gern glauben wollen. Mit der Lebensrealität der meisten Georgier und Georgierinnen hat das nicht viel zu tun.«
Wegen der prekären wirtschaftlichen Lage sind die meisten Georgierinnen finanziell von ihren Ehemännern abhängig, ebenso queere Jugendliche von ihren Eltern; es gibt keine Strukturen, die diese auffangen können, wenn sie sich aus dem Familienumfeld lösen wollen. Die queere Clubszene bietet jedoch in einer von autoritären Verhältnissen geprägten Region jungen Menschen weit über die Grenzen Georgiens hinaus persönliche Freiheit. Wenigstens für eine Nacht.