UA-Nummer
UA-014/2023-1
AI Index
ASA 39/6807/2023
Sachlage
In Thailand werden Jugendliche von den Behörden verfolgt, nur weil sie ihre Rechte auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung wahrnehmen.
Seit 2020, als es im ganzen Land zu Protesten kam, hat die Regierung Strafverfahren gegen mindestens 284 Jugendliche im ganzen Land eingeleitet, weil sie friedlich protestiert und ihre Meinung geäußert haben. Die Behörden haben sie und andere friedliche Demonstrierende mit Schikanen und Überwachung bedroht und eingeschüchtert. Dieses Vorgehen könnte dazu führen, dass Jugendliche ihr Recht auf Protest noch weniger wahrnehmen können. Die Fälle von "Yok", Thanakorn "Petch" Phiraban, Chan Tonnamphet und "Sand" stehen stellvertretend für Hunderte von Jugendlichen, die für die Ausübung ihres Rechts auf friedliche Versammlung bestraft wurden.
Thanakorn "Petch" Phiraban (17 Jahre) wurde im November 2022 wegen Majestätsbeleidigung zu drei Jahren Haft verurteilt, mit der Möglichkeit der späteren Reduzierung auf 18 Monate. Thanakorn Phiraban hatte 2020 auf zwei Protestveranstaltungen gesprochen. Darüber hinaus wurde Thanakorn Phiraban zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Thanakorn Phiraban muss zudem mit weiteren Anklagen auf Grundlage des inzwischen außer Kraft getretenen Notstandsdekrets zur Kontrolle der Ausbreitung von Covid-19 rechnen. Das Gleiche gilt für "Sand", eine 17-jährige Aktivistin, und Chan Tonnamphet. Gegen "Sand" wurde ein Strafverfahren eingeleitet, weil sie 2021 an einer friedlichen Demonstration teilgenommen hatte. Gegen Chan Tonnamphet, einer Aktivistin für indigene Landrechte, wird ermittelt, seit sie 2022 bei einer Kundgebung in Bangkok über die Sorgen der indigenen Gemeinschaft bezüglich des Zugangs zu ihrem Land gesprochen hat. Die 15-jährige "Yok" wurde zwischen dem 29. März und dem 18. Mai 2023 inhaftiert. Ihr drohen bis zu 15 Jahre Haft, unter anderem nach Paragraf 112 des Strafgesetzbuchs, dem thailändischen Gesetz über Majestätsbeleidigung, weil sie im Oktober 2022 friedlich protestiert hatte.
Thailand unterliegt internationalen Verpflichtungen, darunter dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem UN-Übereinkommen über die Rechte des Kindes, und muss somit die Rechte von Minderjährigen auf freie Meinungsäußerung und friedliche Versammlung schützen und gewährleisten, sodass sie davon Gebrauch machen können, ohne Vergeltungsmaßnahmen fürchten zu müssen. Durch diese Rechte haben Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, sich für ihre Menschenrechte und andere Themen, die sie betreffen, einzusetzen.
Hintergrundinformation
Im Jahr 2020 führten junge Menschen, darunter Studierende und Sekundarschüler*innen unter 18 Jahren, eine Welle friedlicher Proteste in ganz Thailand an. Die Demonstrationen breiteten sich von Schulen und Universitäten auf die Straßen aus. Die thailändischen Behörden begannen als Reaktion darauf mit der Inhaftierung und strafrechtlichen Verfolgung der Teilnehmer*innen und Organisator*innen, insbesondere nachdem bei den Protesten Forderungen nach Reformen im Zusammenhang mit der Monarchie laut geworden waren.
Ursprünglich durch den Wunsch nach demokratischen Reformen ausgelöst, umfasste die von jungen Menschen angeführte Protestbewegung Forderungen nach Verfassungsänderungen, sozialen Reformen, einem Ende der Unterdrückung von Regierungskritiker*innen sowie eine Verbesserung der Bildung und der Sicherheit an Schulen. Die Demonstrierenden setzten sich auch für die Rechte von Frauen, indigenen Gemeinschaften, LGBTI+ und ethnischen Minderheiten ein. Bei den Protesten auf der Straße wurden Partys, Diskussionen, Flashmobs, Sitzstreiks, Live-Theater und -Musik, Modeschauen und Kunst veranstaltet und präsentiert. Die jungen Menschen verbreiteten ihre Aktionen und Meinungen online. Sie machten sich Parodien, Satire und bekannte Motive der Jugendkultur zu Nutze, um ihre Forderungen nach Veränderung zu untermalen. Teenager und jüngere Kinder unter 18, oft in Schuluniformen oder Streetfashion, wurden zum Gesicht der Demonstrationen.
Minderjährige, die an den friedlichen Demonstrationen teilgenommen oder ihre gesellschaftlichen und politischen Ansichten in Reden oder satirischen Kommentaren im Internet geteilt haben, müssen mit Inhaftierung, langwierigen Gerichtsverfahren, Einschüchterung, Schikanen und Überwachung rechnen.
Die Behörden begründeten die strafrechtliche Verfolgung der meisten Minderjährigen mit Verstößen gegen die offiziellen Beschränkungen für öffentliche Versammlungen, die im Rahmen des Notstandsdekrets zur Bekämpfung der Ausbreitung von Covid-19 verhängt worden waren. Das Dekret galt für mehr als zwei Jahre zwischen dem 26. März 2020 und dem 30. September 2022. Einige der Jugendlichen stehen auch wegen Paragraf 112 (Majestätsbeleidigung) und Paragraf 116 (Aufwiegelung) des Strafgesetzbuches unter Anklage. Paragraf 112 sieht eine Freiheitsstrafe von drei bis fünfzehn Jahren für Personen vor, die "den König, die Königin, Thronfolger*innen oder Regent*innen verleumden, beleidigen oder bedrohen". Paragraf 116 des Strafgesetzbuchs verbietet es, "Unruhe und Unzufriedenheit im Volk zu stiften, wodurch Aufruhr im Land hervorgerufen werden könnte oder die Menschen dazu veranlasst werden könnten, gegen Gesetze zu verstoßen". Bei einem Verstoß ist eine Freiheitsstrafe von sieben Jahren vorgesehen.
Am 13. Oktober 2022 nahm "Yok" (Name aus Sicherheitsgründen geändert), eine Schülerin der neunten Klasse, an einer Demonstration teil, auf der die Freilassung inhaftierter politischer Aktivist*innen gefordert und gegen das Gesetz zur Majestätsbeleidigung protestiert wurde. Drei Monate später stellten die Behörden eine Vorladung aus, der zufolge sie sich am 2. Februar 2023 gemäß Paragraf 112 verantworten sollte. Yok beantragte eine Verschiebung der Vorladung auf den 9 April 2023 aus schulischen Gründen. Die Behörden des Jugendgerichts stellten jedoch einen Haftbefehl gegen Yok aus. Sie begründeten dies damit, dass sie durch die Teilnahme an einer anderen Demonstration gezeigt habe, dass sie nur "Zeit schinden" wolle und keine wirklichen schulischen Verpflichtungen habe, die den Aufschub rechtfertigen würden. Außerdem wird Yok vorgeworfen, sich offiziellen Anordnungen gemäß Paragraf 368 des thailändischen Strafgesetzbuchs widersetzt und gegen das Gesetz zur Kontrolle öffentlicher Werbung mittels eines Verstärkers verstoßen zu haben. Am 28. März 2023 nahm die Polizei Yok ohne Vorlage eines Haftbefehls auf einer Polizeiwache im Zentrum Bangkoks fest, wo sie in einem Livestream über die Festnahme eines*einer anderen Aktivist*in berichtete. Anschließend befand sie sich bis zum 18. Mai 2023 in einer Jugendhaftanstalt.
Thanakorn "Petch" Phiraban ist LGBTI-Aktivist*in aus Bangkok und wurde am 22. November sowie am 22. Dezember 2022 in zwei separaten Anklagepunkten wegen Verstoßes gegen Paragraf 112 des Strafgesetzbuchs für schuldig befunden. Thanakorn Phiraban hatte im September und Dezember 2020 bei friedlichen Protesten in Bangkok Reden gehalten. Thanakorn Phiraban war die erste minderjährige Person, die wegen Majestätsbeleidigung strafrechtlich verfolgt wurde und nun eine Strafe in einem Berufs- und Ausbildungszentrum für Jugendliche ableisten muss. Thanakorn Phirabans zweite Strafe wurde von den Behörden mit Auflagen zur Bewährung ausgesetzt. Es sind jedoch noch weitere Anklagepunkte unter Paragraf 112 des Strafgesetzbuchs und dem Notstandsdekret gegen Thanakorn Phiraban anhängig.
Gegen Chan Tonnamphet, eine 18-jährige Aktivistin, die sich für die Rechte der indigenen Karen-Gemeinschaft einsetzt, laufen derzeit ebenfalls polizeiliche Ermittlungen. Ihr wird vorgeworfen, im Januar 2022 im Alter von 17 Jahren gegen die Einschränkungen von friedlichen Protesten unter dem Notstandsdekret verstoßen zu haben. Sie hatte bei einem Sit-in-Protest eine öffentliche Rede gehalten, in der sie über die Forderungen ihrer Gemeinschaft an die Behörden sprach, um auch die Stimmen von Menschen aus ihrer Gemeinschaft zu vermitteln, die nicht Thai sprechen. Die Angehörigen ihrer Gemeinschaft sind Opfer von Menschenrechtsverletzungen geworden. Dazu zählt auch das Verschwindenlassen des Menschenrechtsverteidigers Billy Rakchongcharoen, das im Zusammenhang mit der gewaltsamen Vertreibung und Umsiedlung aus dem angestammten Land der Gemeinschaft im Nationalpark Kaeng Krachan in der Provinz Petchaburi im Westen Thailands steht.
"Sand" (Pseudonym zum Schutz ihrer Identität) ist eine 17-jährige Aktivistin, die sich an den Protesten beteiligt hatte, um sich für Gleichberechtigung an Schulen und politische Veränderung einzusetzen. Sie wurde wegen ihres Aktivismus überwacht, schikaniert und wegen ihrer Teilnahme an den friedlichen Protesten in elf Fällen nach dem Notstandsdekret und den damit verbundenen Gesetzen angeklagt. Derzeit läuft ein Verfahren gegen sie wegen eines Verstoßes gegen das Notstandsdekret, weil sie während ihrer Schulferien an einer Demonstration in Bangkok teilgenommen hatte.