Idris Arsamikow wird schon seit vielen Jahren von den russischen Behörden in Tschetschenien verfolgt. Amnesty International ist zutiefst besorgt über die erneute willkürliche Festnahme und das Verschwindenlassen von Idris Arsamikow.
Am 15. Februar wurde er unter dem Vorwurf des Betrugs willkürlich auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo festgenommen und nach Tschetschenien gebracht. Seinen Rechtsbeiständen zufolge wurde der Haftbefehl einige Stunden zuvor vom Leiter der Kriminalpolizei des Schelkowski-Bezirks unterzeichnet. Er bezieht sich auf strafrechtliche Ermittlungen, die 2021 eingeleitet wurden, als Idris Arsamikow mit Flüchtlingsstatus in den Niederlanden lebte.
Am 17. Februar weigerte sich die Polizei des tschetschenischen Bezirks Schelkowski, Idris Asamikovs Rechtsbeiständen seinen Aufenthaltsort mitzuteilen und ihnen Zugang zu ihrem Mandanten zu gewähren. Noch am selben Tag wurden auf Idris Arsamikows Social-Media-Account auf VKontakte zwei Videos veröffentlicht, die ihn angeblich in seinem Haus mit seiner Mutter und seinem Onkel zeigen. Darin erklärt er, dass es ihm gut gehe, er kritisiert die Bemühungen von Menschenrechtsverteidiger*innen, ihm zu helfen, und macht weitere Aussagen, zu denen er allem Anschein nach gezwungen wurde. Anschließend wurde sein Account gelöscht und sein Aufenthaltsort ist bis jetzt nicht bekannt.
Nach Angaben von Idris Arsamikow gegenüber Menschenrechtsverteidiger*innen wurde er aufgrund seiner vermeintlichen sexuellen Orientierung schon früher von der tschetschenischen Polizei willkürlich festgenommen, gefoltert und anderweitig misshandelt. Ihm drohen weitere Folter und andere Misshandlungen und auch sein Leben ist in großer Gefahr. Die Art und Weise seiner Festnahme, die Vorwürfe von Idris Arsamikow, dass er in der Vergangenheit bereits von der tschetschenischen Polizei misshandelt wurde, und die dokumentierten Fälle des Vorgehens der tschetschenischen Behörden gegen Männer nur aufgrund ihrer vermeintlichen sexuellen Ausrichtung, geben Anlass zur Annahme, dass dies auch bei Idris Arsamikow der Fall ist.
Hintergrundinformation
Idris Arsamikow floh 2018 aus Russland, nachdem er von der tschetschenischen Polizei wegen seiner mutmaßlichen Homosexualität willkürlich inhaftiert, gefoltert und anderweitig misshandelt worden war. In den Niederlanden wurde er als Flüchtling anerkannt. Im März 2022 kehrte Idris Arsamikow nach Russland zurück, um an der Beisetzung seines Vaters teilzunehmen. Er musste dafür seinen Flüchtlingsstatus aufgeben. Idris Arsamikow erzählte russischen Menschenrechtsverteidiger*innen, dass er nach seiner Rückkehr nach Tschetschenien zur Polizeiwache in dem Dorf Schelkowskaja ging, um sich einen neuen Reisepass ausstellen zu lassen, die Polizei ihm jedoch nur einen Ausweis für Russland ausstellte und seine weiteren Dokumente beschlagnahmte. Wegen der Weigerung der Behörden, Idris Arsamikow einen Reisepass auszustellen, musste er in Tschetschenien bleiben.
Am 15. Februar 2023 nahm Idris Arsamikow einen Inlandsflug von Tschetschenien nach Moskau. Vor dem Flug erzählte er Menschenrechtsverteidiger*innen, dass er seit seiner Rückkehr nach Tschetschenien im März 2022 mindestens dreimal willkürlich festgenommen und in der Polizeiwache des Bezirks Schelkowski (Shelkovksy) gefoltert und anderweitig misshandelt worden sei. Er sei außerdem wegen seiner vermeintlichen sexuellen Orientierung von Familienmitgliedern bedroht worden. Bei seiner Ankunft auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo nahm ihn die Polizei fest und übergab ihn an einige Männer, vermutlich Angehörige der tschetschenischen Ordnungskräfte. Als seine Rechtsbeistände am 17. Februar nach Tschetschenien reisten und Zugang zu ihrem Mandanten verlangten, verweigerte ihnen die Polizei den Zutritt zum Gebäude der Polizeibehörde des Bezirks Schelkowski und weigerte sich, den Aufenthaltsort ihres Mandanten preiszugeben. Die Rechtsbeistände reichten bei der Polizei und bei der Ermittlungsbehörde Beschwerde gegen das Vorgehen der Polizei ein.
Unter Zwang aufgenommenen Videos werden von den tschetschenischen Behörden häufig verwendet, um zu demonstrieren, dass sie angeblich eine in ihrem Gewahrsam befindliche Person freigelassen haben, und um zu "beweisen", dass die betreffende Person nicht misshandelt wird und nicht an der Hilfe von Menschenrechtsverteidigern interessiert ist. Die Behörden benutzen auch oft konstruierte Strafverfahren als Vorwand, um Personen festzunehmen, die sie in Gewahrsam nehmen wollen. So nahm die tschetschenische Polizei im Januar 2022 Zarema Musaeva, die Mutter der Menschenrechtsaktivisten Abubakar und Ibraghim Yangulbaevs, willkürlich fest und brachte sie als "Zeugin" in einem Betrugsfall von Nischni Nowgorod (Nizhnii Novgorod), wo sie mit ihrer Familie lebte, nach Tschetschenien. Dort wurde sie willkürlich des Betrugs und der Gewaltanwendung gegen eine*n Polizeibeamtin*en angeklagt und in Untersuchungshaft genommen. Ihre Strafverfahren ist noch nicht abgeschlossen.
Im Jahr 2017 deckte die unabhängige russische Zeitung Novaya Gazeta das brutales Vorgehen gegen LGBTI* in Tschetschenien auf, bei dem Dutzende von Männern wegen ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen sexuellen Orientierung entführt, gefoltert und getötet wurden. Bislang ist niemand für die durch diese Recherche aufgedeckten Verbrechen zur Rechenschaft gezogen worden, und die Verfolgung von LGBTI* hält bis heute an.
Unter der Regierung des vom Kremlin eingesetzten Ramsan Kadyrow sind Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien an der Tagesordnung und die Verantwortlichen gehen beinahe immer straffrei aus. Die freie Meinungsäußerung wird seit Jahren brutal unterdrückt. Amnesty International und andere Menschenrechtsorganisationen haben zahlreiche Vorfälle dokumentiert, in denen Kritiker*innen der tschetschenischen Behörden – darunter Menschenrechtsverteidiger*innen, Journalist*innen und Blogger*innen – entweder auf der Grundlage haltloser Anklagen strafrechtlich verfolgt und inhaftiert wurden oder dem Verschwindenlassen zum Opfer fielen. Wer es wagt, Ramsan Kadyrow oder seine Verwandten und Verbündeten bzw. andere Regierungsangehörige zu kritisieren, wird in vielen Fällen gezwungen, sich vor laufender Kamera zu erniedrigen und öffentlich für die Aktivitäten zu "entschuldigen". Diese Aufnahmen werden aufgezeichnet und entweder im Fernsehen ausgestrahlt oder in die Sozialen Medien gestellt. Gleiches gilt für Personen, die auf Probleme in ihrer Gegend wie z. B. die Schließung eines Krankenhauses aufmerksam machen oder auf eine Weise um Unterstützung bitten, die Tschetschenien nach Auffassung der Behörden in einem schlechten Licht erscheinen lässt, wie zum Beispiel die Bitte um Unterstützung für den Unterhalt einer Großfamilie. Diese Praxis der öffentlichen Erniedrigung wird seit mindestens 2015 großflächig angewandt.