Sachlage
Amnesty International liegt eine E-Mail vor, die das Rektorat der METU am 7. Juni an alle Studierenden der Universität gesendet hat. Darin wird die für den 10. Juni geplante Pride-Parade als 'kategorisch verboten' bezeichnet und allen, die sich an der friedlichen Veranstaltung beteiligen sollten, polizeiliches Eingreifen angedroht. In der E-Mail heißt es, die Universität sei ein friedliches, produktives und kreatives akademisches Umfeld und könne durch demonstrierende Studierende einen Rufschaden erleiden.
Der in der E-Mail angeführte Grund für das Verbot, nämlich der "dem Prestige der Universität zugefügte Schaden", ist keine in der türkischen Gesetzgebung verankerte Rechtsgrundlage und ist auch gemäß internationaler Menschenrechtsnormen und -standards nicht zulässig.
Am 10. Mai 2019, als Studierende und Angestellte der METU zuletzt einen friedlichen Pride-Marsch auf dem Campus abhalten wollten, begegnete man ihnen mit unverhältnismäßiger Polizeigewaltund untersagte ihnen die Teilnahme. Ihnen wurde "Teilnahme an einer unerlaubten Versammlung" und "Nichtbefolgen der Anordnung zur Auflösung der Veranstaltung" vorgeworfen. Mindestens 21 Studierende und Angestellte wurden festgenommen, und 19 von ihnen mussten sich vor dem erstinstanzlichen Strafgericht Nr. 39 in Ankara verantworten. Im Oktober 2021 wurden sie freigesprochen. Angesichts dieses Freispruchs stellt jeder Versuch, diese friedliche Versammlung erneut zu verhindern, eine schwere Einschränkung der Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit dar.
Hintergrundinformation
Staaten sind verpflichtet, die Wahrnehmung des Rechts auf friedliche Versammlung in Gesetz und Praxis aktiv zu erleichtern. Auch nach türkischem Recht ist die Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung nicht an eine Genehmigung durch die Regierungsbehörden gebunden. Die Versammlungsfreiheit ist zudem durch völkerrechtliche Standards geschützt, die in Abkommen verankert sind, deren Vertragsstaat die Türkei ist. Jede Entscheidung zur Auflösung einer Versammlung sollte nur als letztes Mittel und im Einklang mit den Grundsätzen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit getroffen werden, d. h. nur dann, wenn es keine anderen Mittel zum Schutz eines legitimen Ziels gibt, das über dem Recht auf friedliche Versammlung steht. In einer derartigen Situation hat die Polizei so weit als möglich jegliche Gewaltanwendung zu vermeiden bzw. die Anwendung von Gewalt so gering wie möglich zu halten.